Egonomics – Marketing im Selfie-Modus für die
ich-bezogene Wirtschaft
// Die neuen Konsumenten der Ich-Generation sprengen den ökonomischen Regelkreis: Small is beautiful. Absatzmärkte zersplittern in immer kleinere, untereinander inhomogene Einheiten. Massgeschneiderte Qualität und kundenindividuelle Produktarchitektur mit Self-Design und Self-Fashioning werden zunehmend zum Grundmuster der Wirtschaft. Der Kunde interessiert sich kaum mehr für das Unternehmen, bei dem er kauft. Er interessiert sich vor allem für sich selbst: Für seine Wünsche, Bedürfnisse, Nöte oder die Erfüllung von Erwartungshaltungen, die im geschäftlichen Kontext an ihn heran getragen werden. Kein Wunder, dass sich die Beziehungen Anbieter-Kunde immer schneller ändern, immer komplexer, immer dynamischer werden. Und dass die meisten Unternehmen auf das neue soziale Betriebssystem des vernetzten Individualismus genau so hilflos reagieren, wie auf Kunden-Exodus und Kundenflucht.
Die Dreiecksbeziehung des Ichlings im Modus
der Vernetzung: Me, Myself and I
// Die lernende Beziehung zum
Kunden und dessen Rolle als Wissensgenerator werden für Wirtschaft und Werbung
immer wichtiger. Denn die Demoskopen prophezeien uns eine Dekade des
Narzissmus. Die vernetzten Konsumenten der nächsten 10, 20 Jahre werden
tendenziell Materialisten sein, die zunächst einmal an sich selbst denken. Und
die amerikanische Idylle der Dorfgemeinschaft mit Georg W. Bushs
konservativen Familiy Values mutiert zur Zweckgemeinschaft des pragmatischen
Abwägens und Aushandelns: Das lebenslange
Bis-das-der-Tod-uns-scheidet-Bekenntnis zu einem Partner, zu einer Zunft, zu
einem Verein, zu einer Partei wird immer brüchiger. Tatsache scheint, dass der
aus seinen Traditionen herausgesprengte und vom Internet geprägte Ichling keine
Matrix für seine Lebensführung mehr hat, sondern nach dem Pippi
Langstrumpf-Prinzip entscheidet: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Dabei Sie sind aber nicht isoliert oder atomisiert, sondern durch strong ties
und durch eine grosse Zahl von weak ties mit vielen Menschen im virtuellen
Austausch. auch wenn sich jede vierte Frau und jeder sechste Mann dabei
„manchmal einsam“ fühlt.
Das „Ich“ fordert mehr und weitet seinen Radius immer weiter aus
// Selbst die ausgeklügeltsten Data Mining Methoden,
keine Predicitive Analytics und keine statistischen Prognosemodelle können Einfluss darauf nehmen, dass der 29jährige Informatiker Markus und die 26jährige
Textildesignerin Esther samstags zusammen in den Supermarkt gehen, aber mit
zwei Einkaufswagen shoppen. Er kauft Bionade, sie das Lifestyle-Winterbier
„Arschkalt“ von Astra. Er greift zum billigsten Klopapier, sie zur teuersten
Hautcreme von Estée Lauder. Sie fährt Audi Cabrio. Er nimmt die U-Bahn. Sie
twittert. Er hat bei Linkedin schon zwölf Gruppen gegründet. Sie jettet
zum Konzert der Babyshambles nach London. Er holt die Kartoffeln beim
Bio-Bauern. Und am nächsten Tag wechseln sie ihre Rollen. Markus spielt Esther,
Esther spielt Markus.
Single in the City – die virtuelle Okönomie der Ichlinge
// Das Resultat dieses Rollenspiels ist eine
Dynamik der Freiheit, bei der die Netzwerkgesellschaft in Einzelne geteilt
wird. Die Ich-Generation sprengt das alte Spannungsfeld zwischen Freiheit und
Gleichheit zu Gunsten einer Kultur virtueller Verknüpfungsformen, die Verbindung
von grösster Beliebigkeit mit Folgenlosigkeit schafft. Kein Mensch will mehr im
Wir-Land der Gemeinschaftserlebnisse leben, sondern im Ich-Land der
individuellen Freiheiten. Je grösser die soziale Gruppe, desto notwendiger die
Ausprägung individuell unterscheidbarer Merkmale. Auch wenn Facebook noch so
tief in den Sedimenten des biographischen Zufalls nach den Goldkörnchen des
Gemeinsamen schürft. fast muss man die Virtuosität bewundern, mit der seine
Nutzer an dieser Grenze entlang tänzeln, ohne sie je zu überschreiten Wir
bekommen es mit atomisierten Individuen zu tun, die sich zu ihrem Egoismus
bekennen. Mit Menschen, denen die Vorstellung nicht behagt, zur Masse einer
klar umrissenen Zielgruppe mit gemeinsamen Werten und Ritualen zu gehören. Und
mit Konsumenten, für die es normal ist, dass nicht mehr der Anbieter dem
Kunden, sondern der Kunde dem Anbieter Angebote macht. Der heutige Konsument
hat verschiedene Identitäten und gehört gleichzeitig unterschiedlichen
Gruppierungen an. Die Vorstellung, zur Masse einer klar umrissenen Zielgruppe
mit gemeinsamen Werten und Ritualen zu gehören, und mit Hunderttausenden
zumindest in einer Hinsicht identisch zu sein, behagt ihm nicht.
Die Epidemie der Selfies:
Individualismus als Massenphänomen
// „Egonomics“, ichbezogene Wirtschaft nennt
Amerikas Trendikone Faith Popcorn den Entwicklung, dass Konsumenten auf ihre
Person zugeschnittene Dienstleistungen und Waren fordern. Dass die Kunden vor
allem ihr Ego bestätigt wissen wollen. Dass der Verkäufer individuell auf sie
eingehen muss. Dass sie nur Produkte, Verkaufsstrategien und Werbekonzepte
honorieren, die auf ihre (vernetzte) Individualiät abzielen. Und dass
sich das Denken in den Chefetagen immer weniger am Plural von Produktion
und am Faktor „Menge“ orientieren darf, sondern immer mehr am Singular von
Bedarf und „working together“.
Kein Wunder, dass Kundenmitwirkung bei der
Produktgestaltung zum anerkannten Teil der Entwicklung wird. Immer mehr
Produktionsfunktionen werden vom aktiven Kunden übernommen, weil bestimmte
Dienstleistungen zu teuer geworden sind oder weil Unternehmen das Finishing
weglassen, um den letzten Handgriff dem aktiven Kunden zu überlassen. Der
Heimwerkermarkt boomt. Kunden basteln ganze Bausätze zusammen, renovieren
Wohnungen, holen sich die Möbel selbst ab und schrauben sie zu Hause
eigenhändig zusammen.
Private products – Kleidung, Bier,
Barbie-Puppe und Hotelzimmer
// Gleichzeitig wird die neue
massgeschneiderte Qualität zum Grundmuster der Wirtschaft. Beim derzeitigen
Stand der 3D-Drucktechnologie und mit der Weiterentwicklung der
Rapid-Manufacturing-Verfahren ist davon auszugehen, dass das
Individualisierungsangebot bei Produkten weiter ansteigen wird. Wertzuwachs
durch Selbstdesign heisst die Devise. Unter www.domyjeans.de wählt der
Kunde sein eigenes Paar Jeans aus verschiedenen Schnittmustern, Farben
und Grössen. Im Internet gibt es für den vernetzten Individualisten längst
kundenindividuelle Turnschuhe, Armbanduhren, Kosmetika, Reiseführer,
Barbie-Puppen sowie Möbel in personalisierter Form. Eine japanische
Fahrradfabrik ist heute schon in der Lage, individuelle Fahrräder jeder Grösse,
jeder Farbe, jedes Stils ohne höhere Kosten und ohne längere Lieferfristen
herzustellen. Und selbst das Hotel der Zukunft wird nicht mehr ein Kasten von
hundert identischen Zimmern mit gleicher Einrichtung und standardisierter
Dienstleistungspalette sein, sondern ein „intelligentes Gebäude“ mit variablen,
individualisierbaren Raumelementen, bei denen sich Licht, Temperatur und
Geräuschkulisse exakt nach dem „Schlafpegel“ des Gastes einstellen lassen.
So gesehen ist es vermutlich keine Utopie,
sondern nur noch eine Frage der Zeit, bis ich beim Bäcker in 3 Minuten mein
Brot nach eigenem Rezept vom Automaten gebacken bekomme, der meine Daten gespeichert
hat, die ich dafür freiwillig preis gegeben habe. Bis ich als Kunde der lokalen
Brauerei mein eigenes Hausbier mit meinem Etikett abrufen kann. Oder mein ganz
persönliches Müsli. Und bis ich in der Apotheke genau die Arznei bekomme, die
meinem persönlichen Erbgut entspricht.
Fragmentierung: Das Marketing muss
schnellstens in der individualisierten Wirklichkeit ankommen.
// Big Data und Daten-Sammelwut haben das Marketing in eine Sackgasse geführt: Statt den Kunden individuell zu
betreuen, haben viele Unternehmen offenbar nur unglaubliche
Datenbanken aufgebaut und sitzen jetzt ratlos auf ihren unbeweglichen
Datenbergen. Denn der neue Kunde lässt sich nicht mehr in Datenbanken
abschieben, die sowieso nur die Vergangenheit darstellen. Eine Database braucht nicht annähernd die Dramatik und den Umfang eines
europäischen Bildungsromans zu haben. Eher die Schlichtheit eines
Samurai-Kriegers. Klarheit, Linearität, Reduce to the max. Nicht wie beim
Monopoly, sondern eher wie beim Schachspiel, bei dem die Beschreibung auf
einen Bierdeckel passt: Der Bauer. Der Läufer. Der König. Die Dame. Der Turm.
Nur das Wesentliche. The purest form of advertising.
// Die Zukunft der Schlüsselindustrien wird
deshalb am vor allem von zwei Faktoren abhängen: Erstens, inwieweit es gelingt,
Produkte individuell herzustellen und so anzubieten, als handle es sich um fast
handwerkliche Einzelanfertigungen. Und zweitens, ob sich Marketing und Management
darauf einstellen können, die Dinge aus der Sicht des Kunden zu sehen und
strukturierte Beziehungsgeflechte auf persönlicher Basis aufzubauen. Dabei wird
der Faktor Zeit eine Rolle spielen. Denn in der Tempo-Gesellschaften ändern
sich Bedürfnisse und Gewohnheiten schneller, als Produkte, Marken und Märkte. Deshalb ist in Zukunft so gut wie nichts mehr langfristig planbar. Und Marketing und Werbung brauchen gleiche Augenhöhe, um zu den Bedürfnissen hinter den
Bedürfnissen des Kunden vorzudringen und ihn im Beuyschen Sinne von „Es muss
etwas ins Blickfeld kommen, bevor es da ist“ dort hinzuführen, wo er hinwill,
bevor es ihm selbst bewusst ist.
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